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Jewgeni & Vladimir Sweschnikow
A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid
459 Seiten, kartoniert
ISBN: 978-90-5691-603-9
27,95 Euro
A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid
Als ich das Werk "A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid" von Jewgeni und Vladimir Sweschnikow, 2015 erschienen bei New In Chess (NIC), zum ersten Mal zur Vorbereitung dieser Rezension in die Hand genommen habe, musste ich unvermittelt an ein Zitat des großen polnischen Satirikers Stanislaw Jerzy Lec (1909 - 1966) denken. "Immer wieder wird es Eskimos geben, die den Eingeborenen von Belgisch-Kongo Verhaltensregeln für die Zeit der großen Hitze geben werden" - so lautet es übersetzt in seiner ursprünglichen Form. Ich möchte ganz sicher nicht der Fernschachspieler sein, der den Schnellspielern am Brett Ratschläge für ihre Partien gibt, auch nicht über eine Rezension. Allerdings war ich zumindest früher, also irgendwann im vergangenen Jahrtausend, auch recht erfolgreich in Blitzpartien, und zwar besonders dann, wenn mein Gegenüber durch einen Gipsarm gehandicapt war.
Um es auf den Punkt zu bringen: Lesen Sie nur weiter, wenn Sie mir zutrauen, dass ich es als ein Spieler, der seit inzwischen Jahrzehnten so gut wie ausschließlich Fernschach spielt, eine ordentliche Rezension über ein Buch zum Blitz- und Rapidschach zu schreiben verstehe. Oder lesen Sie von mir aus auch weiter, wenn Sie sehen wollen, ob ich mich blamiere!
Die Idee, speziell für den Schnellschachbereich ein Repertoire mittels eines Buches zusammenzustellen, ist für mich logisch. So wundert es mich eher ein wenig, dass es aus dieser Sparte kaum etwas gibt, soweit mir bekannt. Besonders beim Blitzen, aber auch in der Rapidpartie muss viel intuitiver entschieden werden, wofür manche Eröffnungssysteme eher als andere beschaffen sind. Der Eröffnungsauswahl kommt eine Bedeutung zu, die tendenziell höher als in einer Normalpartie am Brett liegt. Wenn es gelingt, ein spezielles Eröffnungsknowhow anzubringen, während der Gegner mit Standardwissen hantiert, ist dies ein echter Vorteil.
Sweschnikow sen. - die beiden Autoren sind Vater und Sohn - hat eine eigene Eröffnungsphilosophie entwickelt, die ich schon an anderer Stelle von ihm gelesen habe. Er legt ähnliche, aber doch leicht unterschiedliche Eröffnungsziele für Weiß und Schwarz fest. An diese angelehnt erklärt er, dass ein Spitzenspieler sich eine neue Variante aus der Sicht von Schwarz erarbeitet, da ein Spiel unter dem Optimum dem Nachziehenden schnell einen erheblichen Nachteil einbringen kann, während Weiß eher der Verlust nur seines Anzugsvorteils droht.
"A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid" bietet sowohl Weiß als auch Schwarz ein eigenes Repertoire an, beginnend mit dem Abschnitt für den Nachziehenden.
Auf das weiße 1.e4 lassen die Autoren ihre Eröffnungsempfehlungen auf der Aljechin-Verteidigung fußen, kontern also mit 1…Sf6. Diese Entscheidung halte ich für pfiffig, auch vor dem Hintergrund des Amateurspiels. Das System kommt in Normalpartien selten genug auf das Brett, als dass im Klubspielbereich ein weißes Spezialwissen so häufig wie in vielen anderen Eröffnungen zu erwarten wäre. Die Partie läuft sofort in unsymmetrische Stellungen, es entstehen ab dem 1. Zug Ungleichgewichte. Zugleich ist das Spiel sehr dynamisch ausgerichtet und es gibt rote Fäden für die Spielführung in den verschiedenen möglich werdenden Varianten.
Ausgehend auch von der eigenen Eröffnungsphilosophie Sweschnikows sen. ist die Aljechin-Verteidigung bei einem weißen Anspiel mit 1.e4 also eine logische und nachvollziehbare Wahl. "A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid" gibt soviel an die Hand, dass die im schnellen Schach gespielte Partie damit allemal begonnen werden kann.
Auf das Klubspiel fokussiert gebe ich allerdings zu bedenken, dass ein Vereinskamerad schnell dafür bekannt wird, wenn er auf die Aljechin-Verteidigung als Hauptwaffe setzt. Und dann ist dieses System so übersichtlich angelegt, dass sich der "gewarnte" Weißspieler gut vorbereiten und dann mit einem eigenen Spezialwissen aufwarten kann. Der von den Sweschnikows angestrebte Effekt kann dann also insoweit verpuffen.
Auf die weißen Alternativen zu 1.e4 bieten die beiden Autoren keine gleichartig zwingenden Richtungsfestlegungen als schwarze Reaktionen an. Auf 1.d4 antworten sie mit 1…d5 und beabsichtigen den Weg ins angenommene Damengambit zu nehmen. Wenn Weiß 2.c4 nicht folgen lässt und das Spiel auch nicht in Gewässer lenkt, die über 1.Sf3 erreicht werden, bietet das Werk keine Repertoireempfehlungen mehr an. Nach 1.c4 und 1.Sf3 ist das Material schmal und soll auch eher eine Demonstration der Möglichkeiten sein, wie ein Spezialrepertoire hier aussehen kann.
Die Autoren machen früh im Buch klar, dass sie kein Komplettmaterial anbieten können und dies auch nicht wollen. Sie begründen dies mit den natürlichen Grenzen, die einem Buch wie dem vorliegenden angesichts der Fülle der Theorie gesetzt sind. Die Aussage ist überzeugend. Dem Kaufinteressenten sollte eben nur klar sein, dass ihm hier nicht etwa ein Rundum-Sorglos-Paket winkt.
Das für Weiß ausgearbeitete Repertoire basiert auf einem Anzug mit 1.e4. Komplett ausgeblendet wird dann die Spanische Partie, weil sich der Anziehende sonst auf zu viele und dann auch noch sehr umfangreiche "Subsysteme" wie auch eigenständige Alternativeröffnungen wie zum Beispiel die Russische Verteidigung vorbereiten müsste. Wenn Schwarz zu 1…e5 greift, lenken die Autoren die Partie über 2.Sc3 in die Richtung der Wiener Partie.
Von den unsymmetrischen Erwiderungen werden 1…c5, 1…c6 und 1…e6 abgefangen. Die Skandinavische Verteidigung und Pirc beispielsweise werden nach dem Prinzip "Mut zur Lücke" ausgelassen. Auch hier wieder ist auf die von den Sweschnikows getroffene Entscheidung zur Begrenzung und Konzentration des Repertoireinhalts zu verweisen.
Auf Sizilianisch, Caro-Kann und Französisch versuchen die Autoren Gefilde abseits der Kerntheorie zu erreichen, indem sie dem Spiel einen eher etwas geschlossenen Charakter verleihen. Auf 1…c5 zum Beispiel entwickeln sie das weiße Repertoire über 2.b3.
Zu den bereits genannten Alternativen von Schwarz im 1. Zug erhält der Anziehende, etwas abgestuft, auch ein Repertoire gegen 1…Sf6, also die Aljechin-Verteidigung. Hier kann er sich daran erinnern, dass das Schwarzrepertoire gegen 1.e4 auf diesem System beruht.
Ich hatte oben schon einmal die Warte des Klubspielers eingenommen und möchte dies wiederholen, wenn ich nun auf den Aufwand eingehe, der dem Lernenden entsteht, wenn er sich über "A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid" sein Spezialrepertoire verschafft. Die der Intention der Autoren entsprechende Arbeit nimmt Ressourcen an Zeit und Energie in Anspruch, die nicht zu unterschätzen sind. Der Leser erhält eine Fülle an Material für sein Geld, zugleich aber auch einen Berg an zu bewältigender Materie. Er wird für sich abschätzen müssen, ob er sich diesen Aufwand allein für das schnelle Spiel leisten kann oder möchte. Oder aber er handelt nach der Devise, dass er das, was er in seinen Blitzpartien spielt, auch gelegentlich in seinen herkömmlichen Partien versucht. Bei aller Orientierung daran, was im Blitzen und in Rapidpartien eine schnelle intuitive Entscheidung erlaubt, haben die Autoren ihre Aufgabe nicht darin gesehen, leichtsinnige Linien zu offerieren oder gar fehlerhafte, um einen Gegner schlicht mal übertölpeln zu können. Das Risiko des Spieles wird steigen, wenn er die speziellen und nicht selten etwas unorthodoxen Buchvarianten in der Normalpartie einsetzt, in der sein Gegner die Zeit für eine ordentliche Variantenberechnung hat. Auf dem Leistungsniveau des Klubspiels aber dürfte dieses Risiko übersichtlich bleiben.
Damit bin ich bei einem neuen Stichwort, der Übersicht. Für ein bequemes Lernen ist die Frage der Übersicht alles andere als unbedeutend.
"A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid" ist als Folge von kommentierten Partien aufgebaut, über die hinweg sich der Leser durch das Repertoire bewegt. Mir persönlich ist es an ausgewählten Stellen für meine Betrachtung bisweilen etwas schwergefallen, den Faden zu behalten, zumal sich die Anmerkungen auch schon mal recht weit ins Detail bewegen können. Das am Ende des Werkes eingearbeitete Variantenverzeichnis ist ordentlich und hilft bei der Orientierung, kann damit mein beschriebenes Problem aber nur mildern.
Hier hätte ich mir gewünscht, die echten Repertoireempfehlungen an der Stelle der jeweiligen konkreten Darstellung etwas besser erkennen zu können.
Nun möchte ich das eingangs verwendete Zitat von Stanislaw Jerzy Lec aus Gründen der Praxisrelevanz noch einmal nutzen, aber etwas abgewandelt. "Immer wieder wird es Eskimos geben, die den Eskimos Verhaltensregeln für die Zeit der großen Kälte geben werden." Nun also von Fernschachspieler zu Fernschachspielern: "A Chess Opening Repertoire for Blitz and Rapid" enthält einige Ideen, die nicht dadurch schlechter werden, dass man sie auch im Fernschach erprobt. Der Sizilianer mit 2.b3 beispielsweise zählt sicher dazu. Oder zur "Negativabgrenzung": Es muss immerhin nicht gleich so etwas wie die schwarze Riposte …Le6 sein, über die der Nachziehende in einer Variante des angenommenen Damengambits seinen Mehrbauern auf c4 deckt. In der Blitzpartie wird sein Gegner wohl einen kostbaren Moment der Verblüffung überwinden müssen, bevor er sein Spiel dagegen organisiert. In der Fernpartie spielt dieser Moment überhaupt keine Rolle.
Noch ein Wort zu den Autoren. Jewgeni Sweschnikow muss sicher nicht weiter vorgestellt werden, weder als erfahrener und erfolgreicher Spieler noch als Theoretiker mit der Fähigkeit auch eines Querdenkers. Sein Sohn Vladimir Sweschnikow ist IM und Schachtrainer.
Die Buchsprache ist Englisch. Die Anforderungen an die Fremdsprachkenntnisse des Lesers sind nach meiner Wahrnehmung recht hoch, wofür ein bisweilen breiter Wortschatz verantwortlich ist.
Fazit: Ihr Eskimo-Rezensent überlässt es lieber Ihnen als den Eingeborenen von Schachland, sich die Verhaltensregeln selbst herauszusuchen, die in der Zeit der hitzigen Schnellpartien helfen können.
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach E. Niggemann (www.schachversand.de) zur Verfügung gestellt.
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