Taylor Kingston: "Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior"

von Uwe Bekemann (Kommentare: 0)

Taylor Kingston
Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior
272 Seiten, kartoniert
ISBN: 978-1-949859-27-0
24,95 Euro

Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior“ gehört zu den Werken, die ich nur schwer aus der Hand legen konnte, als ich es zur Anfertigung dieser Rezension erst mal etwas genauer unter die Lupe genommen hatte. Es handelt sich bei ihm um eine Biografie, geschrieben von Taylor Kingston und 2021 bei Russell Enterprises erschienen. Sie ist Edgard Colle gewidmet, der von 1897 bis 1932 gelebt hat und in den 20er Jahren bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein sehr starker Spieler war. Rückwirkende Berechnungen sehen ihn damals an 14. Stelle der Weltrangliste. Da Colle fortwährend unter schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen litt, ist eine solche Platzierung im Weltschach besonders anerkennenswert. Ein chronisches Magengeschwür, von dem er operativ nicht geheilt werden konnte und das ihn letztlich auch das Leben kostete, störte seine Konzentration und nahm ihm die Ausdauer.


Bis in unsere Zeit berühmt gemacht hat Colle allerdings das Colle-System, eine von ihm häufig eingesetzte Spielweise, zu deren Entwicklung und Popularisierung er entscheidend beigetragen hat. Weiß eröffnet mit 1.d4 und baut sich dann verhalten mit Sf3, e3, Ld3, Sbd2, c3 und 0-0 auf, wobei die Reihenfolge der Züge differieren kann.
Seinen Namen trägt auch das mit dieser Eröffnung verwandte Colle-Zukertort-System, bei dessen Wahl Weiß statt c2-c3 den b-Bauern zieht, also mit b2-b3 fortsetzt.

Kernstück der Biografie sind von Colle gespielte Partien. Diese hat der Autor, wie es sich für eine Hommage gehört, so ausgewählt, dass sie den porträtierten Meister auf der Seite des Erfolges zeigen. So hat Kingston sich auf Colles Gewinnpartien konzentriert und diese nach Qualität und Unterhaltungswert ausgewählt. Aber auch Remispartien haben es ins Buch geschafft. Diese können den Spieler ebenfalls auszeichnen, wenn er beispielsweise gegen einen großen Gegner einen Teilerfolg erzielt oder aber eine beinahe verlorene Stellung gehalten hat.

Die meisten Partien sind in ihrer vollen Länge im Buch zu finden. In manchen Fällen setzt Kingston an späterer Stelle ein, wobei er die Ausgangssituation mit einem Diagramm einführt. Auch sind fast alle Partien kommentiert, teilweise sogar erfreulich ausführlich. Lediglich am Ende des Buches sind 9 unkommentierte Partien hinzugefügt worden. Die Kommentierung besteht aus Textkommentaren und natürlich Varianten.
Kingston hat die Partien mit Computerunterstützung überprüft und teilweise ganz neue Erkenntnisse gewonnen, die auch ein anderes Bild auf den Verlauf eines Duells werfen können. Soweit Edgard Colle wie auch andere in Anmerkungen zu Wort kommen, hat Kingston dies kenntlich gemacht. Dies gilt beispielsweise für Fred Reinfeld, dessen Buch „Colle’s Chess Masterpieces“ aus dem Jahr 1936 Kingston als Quelle genutzt hat. Als Engines hat er Komodo und Stockfish eingesetzt. In Analysen macht er die jeweils eingesetzte Engine durch „K“ bzw. „SF“ erkennbar.
Der Rückentext spricht von 120 Partien im Buch, die Nummerierung endet jedoch bei 119.

Die Partien werden regelmäßig über eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte ihrer Entwicklung eingeführt, bevor sie dann im Detail durchgegangen werden. So bekommt der Leser bereits vorab „die Schmankerl“ im Duell angekündigt.

Es dürfte nicht überraschen, dass die am häufigsten zum Einsatz gekommene Eröffnung in Colles Weißpartien im Werk das Colle-System ist. Wer sich für diese Spielweise interessiert, erhält mit „Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior“ sehr gut aufbereitetes Material zur Verfügung, quasi aus erster Hand.

Die Partien sind verschiedenen Kapiteln zugeordnet, die Kingston nach deren Charakteren gebildet hat. So lauten die Überschriften beispielsweise auf „Marvelous Miniatures“, „An Abundance of Brilliancies“ wie auch „Colle’s Fighting Games“ oder „Salvaging the Draw“.

Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior“ ist erkennbar das Ergebnis einer großen Fleißarbeit. Kingston hat sehr viele Informationen über Colle zusammengetragen. Diese finden sich nicht nur vorne im Werk, wo er Colle biografisch vorstellt, sondern durchgehend. Daneben erfährt der Leser viel über andere Spieler, mit denen er am Brett gesessen hat oder die seine Freunde waren. Schachhistorie und das damalige allgemeine Zeitgeschehen finden sich an zahlreichen Stellen des Buches. Alles zusammen sorgt für einen wirklich großen Unterhaltungswert. Dieser war es, der mich, wie oben schon kurz erwähnt, mehrfach davon abgehalten hat, das Buch nach einer gewissen Zeit wieder aus der Hand zu legen.
Stellvertretend für alle beschreibenden Buchinhalte mit Fesselungspotenzial möchte ich eine kleine Anekdote anführen, die auf Seite 18 zu finden ist und für Colle tragisch war. Im Turnier in Budapest 1926 spielte er gegen E. Steiner, dessen König umfiel und versehentlich auf einem falschen Feld neu aufgestellt wurde, was aber zunächst niemand bemerkte. Maßgeblich wegen dieses „Unfalls“ verlor Colle die Partie. Der Fehler wurde nach dem Ende festgestellt und die Schiedsrichterentscheidung lautete, dass das Ergebnis Bestand behalten musste.
Bis dahin war Colle aussichtsreich im Turnier vertreten, was auch die Abschlusstabelle am Ende des Buches bestätigt.

Neben dieser Abschlusstabelle finden sich am Ende des Werkes alle weiteren Turniertabellen, die Kingston sich verfügbar machen konnte. Ebenfalls dort platziert sind ein Report über Colles Turnierteilnahmen, ein Spieler- sowie ein Eröffnungsverzeichnis sowie das Quellenverzeichnis.

Die Anforderungen an die Fremdsprachenkenntnisse des Lesers sind moderat. Lediglich dann, wenn die Erzählungen den Bereich des Schachspiels verlassen, wird der verwendete Wortschatz etwas breiter. Mit dem Nachschlagen einiger selten in Schachbüchern vorkommender Begriffe dürfte es aber getan sein.

Fazit: „Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior“ ist eine sehr gut gelungene Biografie. Sie ist einem großen Schachspieler der Vergangenheit gewidmet, der besonders für seinen Beitrag zur Eröffnungstheorie bekannt und berühmt ist, aber auch ein Denkmal als Spieler verdient. Er war ein Kämpfer auf dem Brett und zugleich gegen seine Krankheit, die vermutlich noch größeren Erfolgen im Wege gestanden hat.

Wer gut gemachte Biografien mag, gut unterhalten werden möchte und gut kommentierte Partien, besonders auch zum Colle-System, schätzt, wird mit diesem Buch sehr zufrieden sein.

Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach E. Niggemann zur Verfügung gestellt.

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