Armin Juhasz: "1.d4! The Chess Bible"

von Uwe Bekemann (Kommentare: 0)

Armin Juhasz
1.d4! The Chess Bible
278 Seiten, kartoniert
ISBN: 9789464201116
29,50 Euro

1.d4! The Chess Bible“ verdient mindestens eine Nominierung für die zweifelhafte Auszeichnung „unpassendster Buchtitel des Jahres“. Das Werk ist 2021 bei Thinkers Publishing erschienen, geschrieben hat es der junge ungarische IM Armin Juhasz. In der Hand des „richtigen“ Lesers ist es ganz sicher ein nützliches Werkzeug. Wer dies allerdings ist, vernebelt der Buchtitel.
Wenn die Bibel als Metapher gerechtfertigt sein soll, dann muss schon etwas vorliegen, das wie die ganze heilige Schrift als eine sowohl umfassende wie auch vollständige Darstellung bezeichnet werden darf. Und diese bietet das vorliegende Werk zu 1.d4 nicht.


Nach dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Buchtitel möchte ich nun darauf eingehen, was “The Chess Bible“ denn nun tatsächlich ist.
Es handelt sich bei diesem Werk um ein Repertoirebuch, das aus der Warte von bzw. für Weiß geschrieben worden ist. Ausgangspunkt ist der weiße Anzug mit 1.d4. In 5 Kapiteln wird das Repertoire zusammengestellt; Juhasz behandelt darin die Königsindische Verteidigung, Grünfeldindisch, Benoni, die Slawische Verteidigung sowie Katalanisch. Um diese Systeme in einem einzigen Buch unterbringen zu können, lässt er Weiß regelmäßig frühzeitig eine Weichenstellung vornehmen, die den Kampf aus der Standard-Theorie führt. Diesen Begriff verwendet der Autor selbst in seinem Vorwort, in dem er seine Repertoireauswahl charakterisiert und diese u.a. als ehrgeizig bezeichnet. Seine Auswahl soll jedoch nicht in ausgewählte Spezialvarianten führen, sondern einen allgemeinen praktischen Wert für den Leser haben. Er konzentriert sich auf Linien, die aktuell auf Großmeisterebene im Repertoire vorkommen.
Um ein konkretes Beispiel für dieses konzeptionelle Vorgehen zu geben: Juhasz lässt Weiß in der Grünfeldindischen Verteidigung nach 4.Sf3 Lg7 mit 5.h4 fortsetzen. Damit lässt er eine Menge Theorie-Ballast links liegen und bewegt sich trotzdem in GM-Repertoire. Spieler wie Morosewitsch, Grischuk und Nakamura haben schon damit fortgesetzt. Jüngst hat Firouzja die Fortsetzung ausprobiert, mit Erfolg, und auch Carlsen hat sie bereits angewendet.

Ich kann die zu den Bucheröffnungen angebotene Theorie und die dann teilweise erst deutlich vorgerückt vorgeschlagenen besonderen Wege nicht hinreichend skizzieren, ohne den Rahmen der Rezension zu sprengen. Aber grob umreißen möchte ich diese wie folgt:

  • Königsindisch: Petrosjan-Variante über 7.d5
  • Grünfeldindisch: siehe oben
  • Benoni: 1.d4 Sf6 2.c4 c5 3.d5 e6 4.Sc3 exd5 5.cxd5 d6 6.e4 g6 7.Ld3 Lg7 8.h3 0.0 9.Sf3 (Snake-Benoni mit 5…Ld6 wird am Rande behandelt)
  • Slawisch: 1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.g3 mit den Fortsetzungen 4…dxc4, 4…Lg4, 4…g6 und 4…Lf5.
  • Katalanisch: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.g3 Sf6 4.Lg2 mit den Fortsetzungen 4…Lb4+, 4…dxc4 und 4…Le7.

In seiner Einleitung gibt Juhasz Tipps, wie man sich eine neue Eröffnung aneignen sollte. Soweit hierzu Literatur beitragen kann, versucht er dies mittels der Struktur seines eigenen Werkes zu unterstützen. Die Kapitel hat er hierzu wie folgt aufgebaut:

Nach einer Einführung, die sich

  • regelmäßig auch mit dem Spielertyp auseinandersetzt, der das jeweilige System mit Schwarz anwendet,
  • eine allgemeine Einschätzung zur Korrektheit der Spielweise anbietet und
  • eine Art Leitlinie zur Behandlung mit Weiß erstellt,

wird die Eröffnung anhand von kommentierten Meisterpartien als solche vorgestellt. Hier geht es darum, mit der Eröffnung allgemein vertraut zu werden, Besonderheiten kennen zu lernen, Zugumstellungen bewerten zu können etc. Die konkreten Repertoireempfehlungen erhält der Leser hier noch nicht.

An diesen Teil schließt sich die theoretische Erörterung an, zunächst in der Form einer kurzen Übersicht und im Anschluss im Detail. Das Werk ist nach der Baumstruktur in Haupt- und Nebenvarianten gegliedert, letztere bis in eine zweite Ebene hinein (Stellen mit einer tieferen Gliederung sind mir nicht aufgefallen). Jeweilige Hauptvarianten erscheinen in Fettdruck, Nebenvarianten erster Ordnung normal und solche zweiter Ordnung in eckigen Klammern und grauem Schriftbild. Es sind zahlreiche Diagramme eingearbeitet. Soweit diese Stellen in Nebenvarianten visualisieren, sind sie etwas kleiner als die übrigen gehalten, so dass sie auf den ersten Blick zugeordnet werden können.
In der Darstellung dominieren Varianten, die teilweise auch länger ausfallen. Die Kommentierung erfolgt in erster Linie über Schachsymbole. Texterläuterungen gibt es auch, aber insgesamt zurückhaltend. Zudem gehen sie weniger auf Strategie, Pläne etc. als auf aktuelle taktische Motive, Kräfteverhältnisse etc. ein.

Im Anschluss an den Theoriebereich findet der Leser erneut Muster- bzw. Referenzpartien, diesmal aber ausschließlich im Rahmen der konkreten Repertoiregestaltung. Die Partien erweitern die Ausführungen zur Theorie und veranschaulichen ganzheitlich den Einsatz der vorgeschlagenen Wege im praktischen Kampf. Die Kommentierung lässt sich tendenziell so wie vorstehend zum Theorieblock beschreiben, vielleicht mit etwas mehr Textkommentierung als dort.

Übungsaufgaben und die entsprechenden Lösungen schließen sich als nächste Station im Buch an. Die Aufgaben zeigen Situationen in praktischen Partien und werden über eine Diagrammstellung aufgebaut. Diese ist um die Anzeige der am Zug befindlichen Seite wie auch um den Hinweis ergänzt, womit sich der Leser bei dieser Übung befassen soll.

Bevor das Kapitel mit einigen zusammenfassenden Tipps des Autors abgeschlossen wird, findet der Leser in der Sektion zuvor noch ein paar ohne Kommentare abgebildete Meisterpartien. Diese soll er zunächst auf sich alleine gestellt analysieren und dabei die kritischen Stellen ermitteln. Seine Analysen soll er notieren und dabei auch mögliche Verstärkungen herausarbeiten. Seine Arbeit soll er im Anschluss mit einer Engine überprüfen und dann entscheiden, was er aus dieser Partie lernen kann.
Diese Übung bewerte ich positiv, ich vermisse aber eine Rückmeldung des Autors bzw. des Buches. Eine eigene kommentierte Fassung der behandelten Partie bietet „1.d4! The Chess Bible“ jeweils nicht an. So hat der Leser keine Möglichkeit, seine Ergebnisse mit einer Musterlösung zu vergleichen. Eine Engine kann diese m.E. nicht ersetzen. Erläuterungen kann diese ohnehin nicht geben und auch dem Leser keine Rückmeldung auf seine Einschätzung zur Frage, was er aus den Partien mitnehmen kann, anbieten.

Das abschließende, das 6. Kapitel befasst sich mit typischen Endspielen, die in Folge der getroffenen Eröffnungswahl auftreten können und deshalb ein spezielles Studium sinnvoll machen.

In seinem Vorwort definiert Juhasz den Adressatenkreis seines Buches sehr weit. Allgemein empfiehlt er es jedem, der mehr über geschlossene Eröffnungen erfahren will, neue Ansätze sucht und sich ein qualifiziertes, ein ausgeklügeltes Repertoire verschaffen will. An der Elozahl orientiert will er den Leser von 1600 bis 2500 ansprechen.
Wenn es um die Hilfestellung geht, die der noch nicht meisterliche Leser braucht und über Erläuterungen, Anleitungen etc. zum Erlernen eines neuen Repertoires von „1.d4! The Chess Bible“ erhält, setze ich den Adressatenkreis bei einer höheren Einstiegs-Elozahl an. Um nicht eine eigene konkrete Zahl nennen zu müssen: Der Leser sollte über so viel Knowhow und Spielvermögen verfügen, dass er ohne eine intensive Erläuterung der Ziele, der Pläne, wesentlicher Stellungsmerkmale etc. Verständnis für die Spielweisen des Repertoires zu entwickeln in der Lage ist, um diese in seiner eigenen Praxis sinnvoll einsetzen zu können.

Bei Thinkers Publishing erschienene Eröffnungsbücher haben, soweit ich sie bisher durchgegangen bin, regelmäßig kein Variantenverzeichnis, das zugbasiert Auskunft über die Platzierung des Stoffes im Werk gibt. Dies gilt auch für „1.d4! The Chess Bible“. Hier habe ich es schmerzlich vermisst, weil es anders als häufig auch keine auf ein Kapitel bezogene Variantenübersicht gibt. Eine schlichte Übersicht über das, was ihn erwartet bzw. was er wo aufsuchen kann, findet der Leser nicht.

Die Anforderungen an die Fremdsprachenkenntnisse des Lesers sind nicht hoch und dürften mit gewöhnlichem Schulenglisch ohne Probleme zu meistern sein.

Fazit: „1.d4! The Chess Bible“ ist ein interessantes und gelungenes Repertoirebuch, das dem Leser ausgeklügelte Spielweisen an die Hand gibt, um mit Weiß zwar abseits der Haupttheorie, aber ohne Rückgriff auf Spezialvarianten zu reagieren, wenn Schwarz auf 1.d4 mit Königs- oder Grünfeldindisch, Benoni, Slawisch oder Katalanisch antwortet. Gemessen an den Anforderungen an das inhaltlich vom Buch erwartete Schachverständnis des Lesers dürfte es sich eher an den guten Klubspieler aufwärts als an den unteren Klubspieler und den Freizeitspieler richten.
Der Fernschachspieler erhält über dieses Werk Material in die Hand – mit Weiß wie mit Schwarz -, das im Fernschach bisher noch nicht allzu verbreitet ist.

Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach E. Niggemann zur Verfügung gestellt.

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