Vassilios Kotronias: "Fight 1.d4 with the Tarrasch!"
von Uwe Bekemann (Kommentare: 0)
Vassilios Kotronias
Fight 1.d4 with the Tarrasch!
384 Seiten, kartoniert
ISBN: 978-1-949859-07-2
26,95 Euro
„Fight 1.d4 with the Tarrasch!“ mit dem Untertitel „A Complete Black Repertoire vs. 1.d4“ von Vassilios Kotronias hat einige Zeit in meinem Regal gestanden, bevor ich mich konzentriert an die Vorbereitung dieser Rezension gemacht habe. Bücher aus der Feder des griechischen Großmeisters sind in der Regel nicht leicht zu besprechen, weil man schnell an die Grenze des eigenen Einschätzungsvermögens kommen kann, was auch auf dieses schon 2019 bei Russel Enterprises erschienene Werk zutrifft. Seine Stärke liegt im hohen Detaillierungsgrad und der tendenziell ausgeprägten Tiefe der Betrachtung. Seine Schwäche liegt im hohen Detaillierungsgrad und der tendenziell ausgeprägten Tiefe der Betrachtung.
Der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden voranstehenden Aussagen ist beabsichtigt. Die Wahrheit liegt in den Augen des Spielers. Es kommt darauf an, was der Spieler sucht. Braucht er ein Werk, das ihm mit einem überschaubaren Aufwand die Möglichkeit eröffnet, seine Freizeit- und Klubpartie in groben Zügen sinnvoll zu eröffnen, dann sollte er von „Fight 1.d4 with the Tarrasch!“ die Finger lassen. Sucht er aber ein grundlegendes Werk, das seinen Speicher bis zum Rand mit Knowhow zum behandelten Material füllt und dieses auch zu verstehen unterstützt, dann wird er vom Autor bestens bedient.
In seiner Einführung hat Kotronias mich zunächst damit erschreckt, dass er in seiner Kommentierung von Kasparow geführte Partien, u.a. gegen Karpov und Kortschnoi, bis zu rund 60 Zügen ohne weitere Erläuterungen abgebildet hat. Als durchgängiges Mittel der Darstellung hätten mich solche Entscheidungen gestört, auch zumal die genannten Partien in jeder gut sortierten Datenbank enthalten sind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es viele Leser gibt, die am realen Brett solche Kommentierungen durchspielen, denn am Bildschirm geht dies deutlich effektiver.
Ich habe mich davon überzeugt, dass die nachfolgenden Kapitel keine „ausufernden“ Partiefragmente mehr enthalten. Dort beschränken sie sich auf eine Länge, die für die eröffnungstheoretische Darstellung förderlich ist und ausnahmslos dem entspricht, was das Auge gewohnt ist.
Bei zahlreichen Varianten handelt es sich allerdings um Analysen des Autors. Sie versprechen dem Leser Rüstzeug, das er nicht in seinen Datenbanken findet und auch seiner bereits vorhandenen Literatur nicht zu entnehmen sein dürfte. Rechnerisch hat Kotronias seine Analysen computergestützt, z.B. mit Stockfish, abgesichert.
In meinen folgenden Ausführungen orientiere ich mich an dem, was Kotronias dem Fernschachspieler mit seiner Arbeit gibt. Im Fernschach kann ein Buch eine Partie begleitend eingesetzt werden. Sein Nutzen ist nicht davon limitiert, dass sich der Spieler nicht alles einprägen kann – er kann im Fernschach jederzeit nachschlagen und an jeder beliebigen Stelle des Buches die Information suchen, die er gerade für den eigenen praktischen Einsatz braucht.
Kotronias hat im Rahmen der Kommentierung hinsichtlich der eben schon angesprochenen Partiefragmente auch auf Material aus dem Fernschach zurückgegriffen.
In quasi 8 Kapiteln bietet Kontronias ein Komplett-Repertoire an, mit dem Schwarz gegen den Eröffnungszug 1.d4 antreten kann. Er konzentriert sich dabei auf die Tarrasch-Verteidigung, die auf direktem Weg mit den Grundzügen 1. d2–d4 d7–d5 2. c2–c4 e7–e6 3. Sb1–c3 c7–c5 entsteht. Die von mir als Kapitel bezeichneten Einheiten werden von Kotronias als „Teile“ überschrieben. Die Teile 2, 3 und 4 hat er nach a und b weiter unterteilt. So ganz einsichtig ist mir diese Gliederung nicht, denn das Verhältnis der beiden Untergliederungen zueinander ist nicht durchgehend gleich. So lässt es sich nicht sagen, dass der jeweilige Teil „b“ auf den Teil „a“ aufsetzt, diesen also in einer fortgeschrittenen Anzahl von Zügen weiterführt. Auf jeden Fall aber ergeben beide Unterteilungen zusammen die umfassende Erörterung zu einer Spielweise.
Das 8. Kapitel („Teil 5“) sichert das Repertoire gegen frühe Abweichungen des Gegners ab.
Das Inhaltsverzeichnis ist umfangreich und zug- bzw. variantenbasiert gestaltet. Auf diese Weise macht es ein zusätzliches Variantenverzeichnis entbehrlich. Schon anhand dieser Informationen auf den ersten Buchseiten lässt es sich gezielt im Werk orientieren.
Die jeweilige Grundvariante wird – als zusätzliche Information – um den ECO-Code ergänzt.
Kotronias verwendet eine alphanumerische Gliederung, die bisweilen bis in die 5. Ziffer geht und so ebenfalls einen Hinweis auf die Detaillierung des Werkes gibt. An ein paar Stellen nimmt sie beinahe schon akademische Züge an.
In groben Zügen ist „Fight 1.d4 with the Tarrasch!“ wie folgt gegliedert:
- Teil 1: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.Sc3 Sc6
- Teil 2a: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.cxd5 exd5
- Teil 2b: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.e3 Sf6 (= Varianten mit einem frühen e2-e3)
- Teil 3a: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.cxd5 exd5 (= Weiß spielt Sc3 und c4xd5)
- Teil 3b: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.cxd5 exd5 5.Sf3 Sc6 6.g3 Sf6 7.Lg2 Le7 8.0-0 0-0 (= Weiß spielt Sc3 und c4xd5 und setzt mit 6.g3 fort)
- Teil 4a: 1.d4 d5 2.Sf3 c5 / 2.c4 e6 (= 2.Sf3, Tarrasch-Gambit und weiße Alternativen nach 9.dxc5 Lxc5)
- Teil 4b: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Sf3 Sc6 6.g3 Sf6 7.Lg2 Le7 8.0-0 0-0 * 9.dxc5 Lxc5 10.Lg5 d4
- Teil 5: Anti-Tarrasch-Systeme.
(* Die hier entstandene Stellung bezeichnet Kotronias in der Einführung übrigens als die zentrale bzw. kritische Position der Tarrasch-Verteidigung).
Kotronias erklärt und erläutert intensiv. Dabei setzt er adressatengerecht nicht bei den Grundzügen an, sondern setzt ein gewachsenes Schachverständnis beim Leser voraus. Wenn er also beispielsweise eine Zugalternative mit der Bemerkung anbietet, dass sie eine Partei relativ leicht ausgleichen lässt, sollte der Leser die Argumente hierfür der Stellung selbst entnehmen können.
GM Matthew Sadler ist zuzustimmen, wenn er in seinem Vorwort auf die Detaillierung des Stoffes und die Inspiration hinweist, die „Fight 1.d4 with the Tarrasch!“ beim Leser auslösen kann. Er weist exemplarisch auf das Gambitspiel 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Sf3 Sc6 6.g3 Sf6 7.Lg2 Le7 8.0-0 0-0 9.dxc5 d4 hin. Dies ist ein gelungenes Beispiel auch für den Wert, den das Buch für den Spieler aus der Warte von Weiß haben kann. Er erfährt ab Seite 291 und bis Seite 296, wie er am besten vorgehen sollte. Natürlich ist dieser Bereich deshalb nicht minder wichtig für Schwarz, denn er kann sich intensiv damit auseinandersetzen, warum er 9…Lxc5 bevorzugen sollte.
Dieser Abschnitt ist übrigens auch ein schönes Beispiel dafür, wie sich Kotronias mit Empfehlungen anderer Autoren auseinandersetzt. Sein Literaturverzeichnis auf Seite 384 ist nur extrem kurz. Es enthält aber „The Tarrasch Defence“ von Aagaard und Ntirlis aus der Reihe „Grandmaster Repertoire“ von Quality Chess. Die darin als Wiederlegung für Weiß angegebene Fortsetzung stellt Kotronias als solche in Zweifel und belegt seine Einschätzung.
Im letzten Kapitel zu den Anti-Tarrasch-Systemen geht das Werk auf spielbare Abwege ein, beispielsweise auf die Weressow-Eröffnung.
„Fight 1.d4 with the Tarrasch!“ enthält „Eröffnungstheorie pur“, also keine Beispiel-oder Musterpartien.
Die technische Qualität des Werkes ist gut. Der Karton für den Einband hätte allerdings nicht dünner sein dürfen. Das Druckbild ist sauber. Das Rezensionsexemplar enthielt lediglich auf einer Seite (Seite 219) einen Fehler in der Form einer leichten Verwischung. Dies dürfte ein nicht generelles Druckproblem sein und grundsätzlich nur dieses Exemplar betreffen.
Fremdsprachenkenntnisse auf einem ordentlichen Schulniveau sollten ausreichen, um überwiegend bequem mit dem Buch arbeiten zu können.
Fazit: „Fight 1.d4 with the Tarrasch!“ ist ein umfangreiches Werk, das Schwarz mit einem Komplettrepertoire auf der Basis der Tarrasch-Verteidigung ausstattet. Es enthält zahlreiche Analysen, die dem Leser neue Ideen vermitteln. In der Hand des Fernschachspielers ist es ein mächtiges Hilfsmittel.
Daneben kann es dem bereits spielstarken Spieler, der Zeit und Energie aufzubringen bereit und in der Lage ist, sich das sehr differenzierte Repertoire anzueignen, zum Kauf empfohlen werden.
Zahlreiche neue Ideen im Rahmen der Analysen des Autors können ein bereits vorhandenes Repertoire auffrischen.
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach E. Niggemann zur Verfügung gestellt.
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